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Evangelischer Singkreis auf dem Montmélianerplatz

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↓ Endnoten
↓ Entstehungsgeschichte

Text

Ich habe einen Traum. Ich arbeite mal wieder in einer Fabrik zusammen mit Menschen der Unterschicht. Da werde ich ge­fragt, was Chri­sten sind. Ich antworte: „Die Christen? Das sind meine Kollegen von der Straße”. Ich glaube, dass manchmal das bloße Vorleben genügt, um Menschen für Christus zu gewinnen. Ich glaube, dass wir Menschen aus den unterschiedlichsten Sub­kultu­ren gewinnen können: Raver, Rocker, Punks, Hiphopper, und Gothics.

Eines Sonntages ging ich nach dem Gottesdienst über den Montmélianplatz, auf dem gerade ein Wochen­markt stattfand, und suchte unsere Christa. Nahe am Brunn­en drehte ich mich um in Richtung der Kreuzung. Keine Christa zu sehen. Mein Blick glitt über einen Tisch, an dem man Karten ausfüllen und ein Auto gewinnen konn­te. Ich stellte mir vor, auf dem Tisch lägen unsere Flyer und Traktate. „Wo ist die Kirche?” fragte ich mich.

Es gab auf dem Platz einen Marktschreier, der seine Tüten mit Würsten füllen würde, wenn ihm jemand zuhörte. Da war auch jemand, der sein Auto abwechselnd an­zünden und polieren würde, wenn ihm jemand zusähe. Auch wir könnten ganz schön was in die Tüten packen: Kinderbibeln und Fingerlinge für die Kleinen, Hack­fleisch und Evangelien in Großdruck für die Senioren. Viel­leicht auch eine Portion „echten Jesus” in McDonald’s-Tüten. Auch wir haben eine reinigende Kraft vorzu­weisen, eben den Heiligen Geist. Er hilft uns, die Sünde abzuweisen, so wie das Wachs das Auto imprägniert.

Doch wir würden unsere Stände erst aufbauen, wenn wir sicher wären, dass uns jemand zuhört. Dabei ist es doch so einfach wie bei jedem Stand auf dem Jahrmarkt: Dort wo jemand zuschaut, stellen sich noch mehr Besucher an. So einfach geht das! Wir bräuchten nur eine Bühne. Der Wurstverkäufer hat eine – seinen Wagen. Stell Dir nur vor wie wir dort stehen und mitten zwi­schen hängenden Würsten singen! Da darf niemand eine Sommer­grippe haben. Du rufst ins Mikrofon: „Posse!” Alle Ra­ver reißen ihre Hände mit den blinkenden LED-Armbändern in die Luft. Du setzt noch ein Mal das Mikrofon an: „Jesus Posse!” und dieses Mal gehen alle Hände hoch. Nein, eigentlich nicht alle. Nur alle in dem bunten Grüppchen. Jetzt sehen alle, nicht nur die Posse, zur Bühne: Der Opa mit Hut, die Mama mit Kopftuch, einfach alle!

Der Posaunenchor tritt auf und mischt den Platz auf. Die Punks beginnen zu pogen, weil die meisten von ihnen auch auf Ska ste­hen. Der Wurst­verkäufer ist noch da­bei, mitten in der Menge Snacks zu verkaufen. Mit einem Strauß Knackwürste in jeder Hand wird er von mehreren Seiten getroffen. Die Würste fliegen wie Bon­bons an Fasching. Die Kinder, die ja keine Angst vor Dreck haben, heben die Würste auf und bei dieser Gelegenheit auch die Flyer vom Spatzenchor. Die Punks ha­ben sich vorerst beruhigt, weil der Posaunenchor eine ruhigere Passage spielt. Sie suchen jetzt Sicherheits­abstand zu den Hip­hoppern, die sich über ihren Tanzstil em­pören. Ein Hiphopper wurde zu oft am unteren Ende seiner Hose getroffen, bis sie ihm schließlich herunter gerutscht ist.

Du trittst wieder auf die Bühne und kündigst ein Passionslied an. „Oh nein, muss das sein” Ein Murren geht durch die Menge, nicht nur durch den bunten Christen­haufen. Die Kollegen von der Straße tuscheln: „Psch-s! … Wir haben Fastenzeit … Psch …warum nicht … ps” Du hast auch entschiedene Gönner. Am hinteren Ende des Haufens, wo die Christen aus der schwarzen Szene zusammen stehen, hüpfen zwei kleine Männer voll Vorfreude und skandieren: „Kreuzigt ihn! Kreuzigt ihn!” Sie sind so klein, dass man hinter den anderen Schwarz­mänteln nur ihre Haare auftauchen und verschwinden sieht.

Der Wurstverkäufer hat sich eine Auszeit genommen, ein Prosit an dem nahe gelegenen Bierstand. Hier beginnt er bei einem Bier, das Evangelium zu lesen, das ihm heute von einem unserer Gemeindeglieder geschenkt wurde. Während­dessen schmettert der evan­gelische Singkreis einen Süd­staaten­gospel. Von den schwarzen Chri­sten, die zufälligerweise vorbei laufen, regen sich manche über den Slang auf, der sie an Missisippi und an die Sklaverei erinnern. Man kann es eben nicht allen recht machen. Rechtzeitig zum Lobpreis hat der Wurstverkäufer ausgetrunken und mischt sich mit Elan unters Volk.

Endnoten

Gag Erklärung
eine Portion „echter Jesus” in McDonald’s-Tü­ten In einem Anspiel des Konfirmantenjahrganges 2006 wur­de Glau­be wie Fast Food ver­packt.
posse Sprich: posi. Kann als „Schar” oder „Clique” übersetzt wer­den. So spricht der Front­mann von Scoo­ter die Konzert­be­sucher an.
Ska eine Art Rockmusik mit drei Bläsern, sehr schnell gespielt

Entstehungsgeschichte und die Haltung des Erzählers

Der Evangelische Singkreis Höchst im Odenwald schenkte seiner Kantorin ein selbstgemachtes Buch zum Jubiläum. Jeder Sänger schrieb oder malte eine Seite. Die­se Grotes­ke füllt eine Seite und ist mein Beitrag zu dem Buch. Die Person, die in dem obigen Text angesprochen wird, ist also unsere Kantorin und mit „ich” meine ich mich selbst.

Ich habe zwei Ideen aufgegriffen, die sich nun wie zwei rote Fäden durch den Text ziehen. Anschließend habe ich mir Michael Mittermeier als Vorbild genommen und meiner Fantasie freien Lauf gelassen.

Die erste Idee ist das Relikt aus dem missglückten Versuch, einen inspirierenden Vortrag über gelebten Glauben zu schreiben. Ich hatte ein paar Bilder, Geschichten und Gleichnisse ausgedacht, hatte aber insgesamt kein Konzept, was ich damit vermitteln wollte. Ein Bild habe ich mir jedoch behalten: Ich stand wieder bei Nintendo am Band. Im Gegensatz zu dem Jahr zuvor, als ich wirklich dort war, hatte ich in meinem Traum auch Kontakte außerhalb der Arbeitsstelle. Deshalb konnte ich in meinem Traum ungelogen antworten: „Die Christen? Das sind meine Kollegen von der Straße”.

In der Comedy weiß man nie, was echt und was erfunden ist. Deshalb sage ich es dazu: Der Mann, der die Autopolitur verkaufen wollte, war echt. Ich hätte bei dieser Gelegenheit übertreiben können, indem ich im Indikativ und mit viel Bumms erzähle, wie er sein Auto abfackelt. Ich habe diese Gelegenheit nicht ausgenutzt und bin froh darum, weil der Text dadurch an Aussagekraft verloren hätte. Es ist wahr, dass der Mann am Auto auf Kundschaft gewartet hat, um erst dann etwas vorzufüh­ren. Die Kirche macht denselben Fehler. Ich hatte bereits erlebt, dass es auch anders geht. In Sandbach hatte ich aus einem vollen Bierzelt Lobpreismusik gehört, bin vom Fahr­rad gestiegen und habe in dem Zelt einen Pfarrer und seine Band gefunden. Deshalb stellte ich mir sehr ernsthaft die Frage nach der Präsenz der Höchster Kirche auf dem Montmélianerplatz. Für die musikalische Realisation wären ggf. wir, der Evangelische Singkreis, zuständig – und schon waren die Überschrift und das Leit­mo­tiv gefunden.


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